Urkunden
Neben Akten gehören auch offizielle (von Kaisern, Königen und Päpsten) und später auch „private“ Urkunden (von Fürsten, Landesherren, Bischöfen, Klöstern, Städten und – vor allem adeligen – Privatpersonen), nach Ahasver von Brandt „die häufigsten und wichtigsten Quellen zur mittelalterlichen Geschichte“[1], zu den sogenannten „Überrestquellen“. Im Rahmen „einer frühen Entwicklungsstufe schriftlicher Verwaltung“[2], die im Laufe der Zeit steig zunahm und sich weiter ausdifferenzierte, spiegeln sich auch in ihnen rechtliche, wirtschaftliche und/oder politische Akte/Geschäfte wider, „die man bis dahin ausschließlich mündlich und in rechtssymbolischen Formen abgeschlossen hatte“[3], wenn auch überwiegend „nur“ mit dem jeweiligen Ergebnis „als abschließende, rechtswirksame Dokumentation einer Handlung“[4]. Sie dien(t)en „als rechtskräftige Beweismittel im Streitfall“[5] und „als Instrumente machtpolitischer, rechts- und besitzstabilisierender Maßnahmen“[6] und wurden dementsprechend wachsam und zunehmend geordneter bzw. systematischer in speziellen „Schatzarchiven“ bzw. „Urkundendepots“ aufbewahrt. Bis zum Spätmittelalter in lateinischer Sprache verfasst, folgen Urkunden in der Regel sowie je nach Typus, Zweck, Entstehungszeit und -ort im Sinne der Rechtssicherheit und -verbindlichkeit einem bestimmten formalen sowie sprachlichen und inhaltlichen Schema, auch anhand sogenannter „Muster- und Formelbücher“[7], und konnten je nach Anlass sowohl feierlich-ausführlich als auch eher kurz und schlicht ausfallen. Im Groben bilden Eingangsprotokoll, Urkundentext bzw. -kontext und Schlussprotokoll die drei zentralen Urkundenbausteine, die in sich jeweils noch einmal feiner untergliedert sind. Der „Reinschrift“ bzw. „Ausfertigung“ einer Urkunde geht vor allem seit dem Spätmittelalter ein „Konzept“, also „der unbeglaubigte, häufig korrigierte Entwurf“[8] als eine Art Spiegelbild „der Willensbildung beim Aussteller in einer früheren Stufe“[9] sowie nicht selten auch als Originalersatz, voraus. Ihr (Rechts-)Inhalt wurde anfänglich etwa mit einer Unterschrift, später aber vor allem mit ei nem Siegel, auch zusammen mit einer Unterschrift, bestätigt bzw. beglaubigt.[10]
Urkunden liegen häufig in Gestalt „beglaubigter kopialer Überlieferung“[11] vor. Diese Abschriften - „Kopiare“ - dienten als „Sicherheitskopien“ etwa im Falle von Verlust oder Diebstahl sowie der Erhaltung bzw. Schonung des Originals. Diese wurden häufig in sogenannten „Kopialbüchern“ zusammengefasst. Konzepte und Kopiare wurden zudem oft verkürzt in dazugehörige Aus- und Eingangsregister übertragen.[12]
Mit der Ausweitung des Kreises „der gewohnheitsmäßig urkundenden und das heißt in der Regel: siegelnden – Personen“[13] und der Zunahme des Handels sowie der Rechtsgeschäfte und damit auch der Schriftlichkeit bedurfte es im rechtlichen Sinne einer qualitativen Gewichtung der Siegel sowie spezieller, allgemeingültiger „Dokumentations- und Beweismittel für Geschäftsabschlüsse und Verabredungen“[14]. In diesem Zusammenhang traten „mächtige“ und privilegierte Siegelführer bedeutend hervor. Sie führten sogenannte „sigilla authentica“, also authentische Siegel, denen „die öffentlich-rechtliche, unbedingte und unanfechtbare Beweiskraft eigen“[15] war. Es kam zu einer „Neubelebung der Privaturkunde in Gestalt der Siegelurkunde“[16], deren (Rechts-)Inhalt mit einem solchen sigillum authenticum bestätigt bzw. beglaubigt wurde. Diese sigilla authentica und die mit ihnen besiegelten Urkunden erfreuten sich ähnlich den „notariell ausgefertigten öffentlichen Urkunden“[17] hoher Glaub- und Vertrauenswürdigkeit. Sie fungierten ab dem späten 12. und im 13. Jahrhundert im öffentlich-rechtlichen Sinne auch gegenüber den Urkunden von Königen, Kaisern und Päpsten, die von besonderer Autorität waren, als „Instrument mit Beweiskraft“[18] und „entscheidendes Beglaubigungsmittel“[19]. Der Kreis der Inhaber authentischer Siegel war nicht starr und erweiterte sich im Rahmen regionaler Unterschiede im Laufe der Zeit, zunächst handelte es sich jedoch neben Königen, Kaisern und Päpsten vor allem um Angehörige „des hohen geistlichen und weltlichen Adels“[20] sowie etwa Klöster, große Städte, Gerichte sowie Behörden. Nach und nach erweiterte sich der Kreis der Siegelführer. Unter dem Stichwort „Siegelung in fremder Sache“[21] konnten die Inhaber mit ihrem sigillum authenticum zudem nicht nur die eigenen, sondern auch die Urkunden Dritter, die entweder gar kein eigenes oder eben kein derart „mächtiges“ Siegel führten bzw. führen durften, beglaubigen und rechtskräftig machen. Dies kam im Laufe des Mittelalters häufig vor, wenn es beispielsweise darum ging, die Abschrift einer (fremden) Urkunde oder eine neu ausgestellte (fremde) Urkunde glaubhaft und rechtssicher (mit) zu besiegeln. Dies erfolgt im Prinzip bis heute, indem etwa Kopien als mit dem Original übereinstimmend per Amtssiegelstempel, auch „Dienstsiegel“ bzw. „-stempel“ genannt, beglaubigt werden. Diese öffentlich-rechtliche Nutzung von Siegeln fasst man auch unter „diplomatischem“ Siegelgebrauch zusammen.[22]
Unter dem „nichtdiplomatischen“ Gebrauch versteht man die Verwendung von Siegeln, um etwa Dokumente, Räumlichkeiten, Gefäße, verpackte Waren und Ähnliches zu verschließen sowie das (unrechtmäßige) Öffnen durch Zerstörung des Siegels sichtbar zu machen. So waren beispielsweise sogenannte „Briefverschlusssiegel“, auch „Sekretsiegel“ genannt, während des gesamten Mittelalters und noch bis in die Neuzeit hinein „verbreitete Gebrauchsgegenstände“[23], um zum einen vor allem gegenüber dem Adressaten den Verfasser und zum anderen, wie bereits erwähnt, eine unbefugte Öffnung des Briefes durch ein gebrochenes Siegel kenntlich zu machen. Die Versiegelung von Dokumenten berührt sowohl den diplomatischen als auch den nichtdiplomatischen Anwendungsbereich, so gab es etwa auch Urkunden, die gefaltet und mit einem Siegel verschlossen wurden. Als „Erkennungszeichen“[24] dienten mittelalterliche Siegel auch zur Legitimation von Personen und deren Funktionen etwa im Rahmen von Botengängen oder diplomatischen Zusammenkünften.
Auch Besitz und/oder Herkunft können durch den nichtdiplomatischen Einsatz von Siegeln gekennzeichnet werden. In diesem Zusammenhang stehen bis heute Güte- und/oder Markensiegel, wie man sie auch in moderner Gestaltungsform zum Beispiel aus dem (Bio-)Lebensmittelbereich kennt und die etwa eine bestimmte Produktionsweise, besondere Zutaten und/oder Ähnliches belegen sollen.[25]
Zurück zur eigentlichen Urkunde. Eine „Beweisurkunde“, auch „deklaratorische Urkunde“ genannt, diente zunächst dazu, eine „bereits vorher mündlich-rechtssymbolisch vollzogene Rechtshandlung“[26] o. Ä. auch und gerade schriftlich zu belegen. Später kam die sogenannte „dispositive bzw. konstitutive Urkunde“ dazu, in der ein bestimmter Akt - ohne den bisherigen mündlichen Vollzug im Vorfeld - schriftlich und rechtswirksam fixiert wurde. Die Kompetenzen der Urkunde wurden sozusagen erweitert: Durch ihre „rechtbewirkende Kraft“[27] bewiesen sie nicht mehr nur bestimmte Gegebenheiten, sondern erschufen eben jene an sich.[28]
Neben der obligatorischen Überprüfung der Herkunft („Provenienz“) muss auch die Echtheit anhand äußerer (Verfasser, Aussteller und Datum, Material, Schrift, Größe bzw. Format, Besiegelung, Zustand u. Ä.) und innerer Charakteristika (Schreibstil, Textaufbau und formale Bestandteile, ggfs. offizielle (Kanzlei-)Vermerke u. Ä.), die je nach Entstehungszeit, -ort und -kontext sowie individuellen Voraussetzungen seitens der Verfasser und Aussteller durchaus unterschiedlich ausfallen, überprüft werden. So waren gefälschte Urkunden ein Massenphänomen des Mittelalters und gelten als eigentliche Wurzel der Diplomatik, also der Urkundenlehre bzw. -forschung, als Hilfswissenschaft, die sich ihrerseits im Laufe der Zeit weiterentwickelte und professionalisierte. Je nach Fragestellung können sie ebenso wertvolle historische Quellen sein wie echte Urkunden. Mit Blick auf die Auswertung von Urkunden gilt es vor allem hinsichtlich der dispositiven bzw. konstitutiven Urkunde zu bedenken, dass die tatsächliche Umsetzung des Urkundeninhaltes nicht immer zweifelsfrei angenommen werden kann. Zu Forschungszwecken dienen wissenschaftliche Editionen, in denen die Urkunden vollständig abgedruckt sind, und/oder sogenannte Regesten, die den Urkundeninhalt verkürzt wiedergeben.[29]
[1] Siehe Brandt, Ahasver von: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 200717, S. 81.
[2] Siehe Hartmann, Josef: 1. Urkunden, in: Beck, Friedrich; Henning, Eckart (Hrsg.): Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln u. a. 20125, S. 25-54, hier S. 25.
[3] Siehe Hartmann: 1. Urkunden (20125), S. 25.
[4] Siehe Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 81.
[5] Siehe Hartmann: 1. Urkunden (20125), S. 43.
[6] Ebd.
[7] Ebd., S. 39.
[8] Siehe Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 97, vgl. in diesem Sinne auch Hartmann: 1. Urkunden (20125), S. 40.
[9] Siehe Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 97.
[10] Vgl. zu dem gesamten Abschnitt ebd., S. 81-83, 85-87, 90-92, 95, 97; Hartmann: 1. Urkunden (20125), S. 25-27, 40-41, 43, 45-48.
[11] Siehe Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 96.
[12] Vgl. ebd., S. 96-97; Hartmann: 1. Urkunden (20125), S. 37, 41.
[13] Siehe Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 135.
[14] Siehe Krauth, Wolfgang: Siegel, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, abrufbar unter URL: https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde/archivalienelemente/siegel, Stand: 11.01.2018 (Aufruf: 13.2.2022).
[15] Siehe Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 136.
[16] Siehe Hartmann, Josef: Urkunden, in: Beck, Friedrich; Henning, Eckart (Hrsg.): Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln u. a. 2003, S. 9-39, hier S. 15.
[17] Siehe Stieldorf, Andrea: Siegelkunde. Basiswissen, Hannover 2004 (Hahnsche Historische Hilfswissenschaften), S. 55.
[18] Siehe Krauth: Siegel.
[19] Ebd.
[20] Siehe Hartmann: Urkunden (2003), S. 15.
[21] Siehe Diederich, Toni: Siegel und andere Beglaubigungsmittel, in: Beck, Friedrich; Henning, Eckart (Hrsg.): Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln u. a. 2003, S. 291-305, hier S. 296.
[22] Vgl. zu dem gesamten Abschnitt Heegewaldt, Werner: 1. Einführung in die Siegelkunde, Stand: 9. Oktober 2014, in: Moodle (FH-Potsdam); ders.: 5. Siegel als Handwerkszeug von Archivar(inn)en, Stand: 24. Mai 2018, in: ebd.; Hartmann: Urkunden (2003), S. 13-16, 27; Diederich: Siegel, S. 296; Stieldorf: Siegelkunde, S. 13, 55; Krauth: Siegel; Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 87, 97, 135-138; Grosch, Waldemar: Geschichte und Grund- bzw. Hilfswissenschaften, in: Fritz, Gerhard (Hrsg.): Fachwissenschaft Geschichte. Ein Studienbuch für Studierende Grund-, Haupt- und Realschule, Stuttgart 2011, S. 107-149, hier S. 131.
[23] Siehe Stieldorf: Siegelkunde, S. 34.
[24] Siehe Heegewaldt: 1. Einführung in die Siegelkunde.
[25] Vgl. ebd.; Krauth: Siegel; Stieldorf: Siegelkunde, S. 22, 32-36, 55; Diederich: Siegel, S. 296; Grosch: Grund- bzw. Hilfswissenschaften, S. 131.
[26] Siehe Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 84.
[27] Ebd., S. 86.
[28] Vgl. ebd., S. 84-87.
[29] Vgl. ebd., S. 86, 93, 95, 98, 102-103; Hartmann: 1. Urkunden (20125), S. 35, 36, 51, 53, 54.